Ich habe Angst

 

 

 

Ich bin ein Jahrgang 1937, einer derjenigen, der sozusagen noch Zeitzeuge des schrecklichen zweiten Weltkrieges ist, auch wenn ich natürlich damals noch ein kleiner Bub war. Aber ich habe ein sehr gutes Erinnerungsvermögen. Vielleicht, weil sich gerade schreckliche Erlebnisse wie Bombenangriffe besonders tief in ein Kindergemüt einprägen und unauslöschliche Bilder geschaffen haben. Heute überschütten eine Flut von Events und rasch wechselnde Bildern schon das Kleinkind, die im Gegensatz zu den Erlebnissen damals aber kaum mehr betroffen machen. Früh lernt das Kind im digitalen Zeitalter, Bilder etwa auf dem Tablet, wenn sie zu wenig Action haben, einfach wegzuwischen. Die Bilder von damals lassen sich nicht mit einer Handbewegung entfernen und tauchen bei allen möglichen Anlässen irgendwie immer wieder auf. Besonders jetzt im Alter. Ich muss auch noch betonen, dass ich wohl nicht zu denen gehöre, die sich durch irgendwelche Nachrichten schnell Angst machen lasse, oder allen möglichen Verschwörungstheorien zum Opfer fallen. Ich kaufe keinen Vorrat für Monate ein, auch wenn ich von einem ernsten internationalen Konflikt höre oder lese. Und im Gegensatz zu manchen kann ich in Zeiten, in denen es im Hinblick auf einen Weltkrieg auf Spitz und Knopf stand, habe ich nicht im Entferntesten daran gedacht, mir einen Atombunker einrichten zu lassen. Ich bin vielleicht auch nicht allzu mutig und habe nie bei Extremsportarten wie Klettern oder Bungee-Springen mitgemacht und hätte gewiss kein Freude daran, sollte ich einmal durch Zufall einen Fallschirmsprung gewinnen. Aber ich bin eigentlich auch kein Angsthase. Merkwürdig, dass ich in der letzter Zeit irgendwie immer so etwas wie Angst verspüre. Angst unterscheidet sich bekanntlich von der Furcht, bei der man den Gegenstand desselben in der Regel sieht. Angst ist anonymer, ist ein Gefühl, das einen plötzlich überkommen kann, ohne dass man ganz genau weiß, warum. Vielleicht hat diese Angst, die ich hin und wieder verspüre, mit diesen früheren Bildern zu tun. Sie tritt manchmal ein, wenn ich in eine unüberschaubare Masse gerate wie etwa nach, oder vor einem Fußballspiel. Es gibt ja bekanntlich eine Klaustrophobie. Gibt es eine Phobie vor einer zu großen Masse? Auf alle Fälle taucht bei solchen Anlässen ein Bild auf: Ich bin mit meiner Mutter beim Einkaufen in dem kleinen Kramerladen am Marktplatz in Erding. Auf einmal marschiert unter dem Geschrei eines Mannes, der als besonders fanatischer Nazilehrer berüchtigt ist, eine Schar von laut singenden halbwüchsigen Buben auf. Die Krämerin bemerkt spöttisch: „Au weh, der Lehrer Klesper drangsaliert heute wieder die Hitlerjugend.“ Tatsächlich lässt er unter lautem Gebrüll die „Jungschar“ über den Marktplatz robben und alle möglichen Übungen aufführen. „Hoffentlich bleibst von dem einmal verschont“ murmelte meine Mutter. Nach etwa einer Stunde marschierten die Buben, den Lehrer an der Spitze mit ihm ein Nazi-Lied singend wieder davon.

 

Meine Massenphobie besteht sicher auch aus dem Erlebnissen, wie bei einem Bombenalarm das halbe Erding in dem als an sicher geltenden Luftschutzbunker, den Tempelkeller drängte. Und einmal habe ich sogar, bevor wir nach Erding evakuiert wurden in der Münchner Innenstadt eine Massendemonstration erlebt, die meine Mutter und mich überraschte, als wir einkaufen wollten. Ich sehe noch immer die Leute dichtgedrängt an den Straßenrändern stehen. Auf einmal fuhr ein Auto mit - es könnte sogar Adolf Hitler gewesen sein - einen darin stehenden Mann mit erhobener Hand durch die Menge, die laut und fanatisch zu plärren begann und kleine Fahnen schwenkte. Auch in bekam von irgendjemand so ein Ding in die Hand gedrückt, aber meine Mutter nahm es mir zu meinem Bedauern stillschweigend weg. Massendemonstrationen für oder gegen etwas sind, aus besagten Gründen nicht das Meine. Es reicht mir, wenn ich sie im Fernsehen erblicke.

 

Nun glaube ich bei allen Befürchtungen mancher Leute nicht, dass es in unserer Zeit solche Massenaufmärsche von Unverbesserlichen geben wird, obwohl einiges zur Vorsicht mahnt. Ich habe vor ganz etwas Anderem mehr Angst: manchmal schaue ich nur kurz im Fernsehen Sendungen mit irgendwelchen Populär-Comediens an. Dabei habe ich mir abgewöhnt, nach irgendwelchen Geschmackskriterien bei manchen sogenannten Kabarettisten anzulegen. Was mich viel mehr schockiert ist nicht das meist niveaulose Gerede, sondern die Beobachtung der Zuschauer, und der „Applauser“. Jawohl ich habe Angst vor Menschen, die bei den dümmsten und peinlichsten Stellen des Vortrags klatschen und in ein Lachgebrüll verfallen. Ich habe mich später immer wieder bei der Sendung einer Hitlerrede gefragt, wie es dieser Mann mit seiner schnarrenden Stimme schaffen konnte, eine solche Begeisterungshysterie auszulösen. Natürlich unterstelle ich den Comedians nicht, dass sie üble nationalsozialistische Ideologien verbreiten. Mir geht es um die Frage, wie willführig auch oder gerade heute Menschen zu begeistern sind, welche dummen Sprüche sie lustig finden. Ich habe nicht nur ein Unwohlsein bei manchen Gestatten, die sich an die Spitze stellen, sondern vor all den vielen Mitmarschierern und sog. Mitläufern, die dann so ehrenvoll das „Volk“ genannt werden. Da fällt mir ein, dass es ja damals eine Einheitserzeitung genannt „Völkischer Beobachter“ gab. Diejenigen, die sich wie meine Eltern und unsere liebe Nachbarin, die Marie nicht „hielten“, sondern die „Neuesten Münchener Nachrichten“ waren in unserem Mietsblock bereits ein wenig suspekt. Gott sei Dank gilt bei uns die Pressefreiheit, und sie wird es, da bin ich mir sicher, weiter geben. Aber gibt es da nicht etwas, was in einem weit größeren Ausmaß das Volk „bedient“. Wir bekommen alle Informationen, alle „News“ geradezu „auf dem Tablet serviert“. Wie viele denken darüber nach, wer eigentlich diese Vermittler sind und wieviele Informationen sie uns vermitteln, in die irgendwelche Manipulationen eingeschmuggelt wurden. Vor Jahr und Tag verkündete ein bekannter bayerischer Politiker, dass die Unterhaltung wertfrei sei. Es war der größte Irrtum in seiner Laufbahn. Wenn ich sehe und höre, was gerade Sendungen im Unterhaltungsbereich, „rüberbringen“, wird mir wirklich Angst und Bange. War nicht in der NS-Zeit eines der infamsten Mittel, rassistische Witze zu machen? In Witzen wird noch mehr angerichtet als in manchen Parolen. Wenn ich höre, über was sich manche „Unterhalter“ lächerlich machen, erinnert das stark an üble Hetzkampagnen im dritten Reich. Dazu gehören auch die Verallgemeinerung wie „die Ausländer“, aber auch „die Kirche“, „der Pfarrer“. Es ist sicher richtig, Missstände in der Kirche aufzudecken, einen ganzen Berufsstand allerdings dem Verdacht und Gespött preiszugeben ist übel. Übel sind auch immer häufiger werdende Witze über Behinderte. Ich kenne Sendungen, in denen fast regelmäßig Demenzkranke zum Gegenstand des Spottes gemacht werden. Auch da tauchen früheste Erinnerungen auf. In dem Haus, in den ich aufwuchs, gab es einen wunderbaren Menschen, der durch eine Erkrankung in der Kindheit geistig behindert war, der Ferdinand. Er war einer meiner liebsten Spielgefährten. Eines Tages war er verschwunden. Die meisten wussten warum und wohin. Ich erfuhr erst später von der grausamen Ideologie der Nazis, der „Euthanasie“ und dem „lebensunwerten Leben“. Wieviel wird uns, vor allem unseren Kindern heute „wertvoll“, „wichtig“, „unerlässlich“, „gesund“ im wahrsten Sinne des Wortes „untergejubelt“. Es wäre schon interessant, einmal festzustellen, wieviel Weitervermittlung durch das als so großartig von unserer Regierung gepriesenen „Wertebündnis“ oder durch Werbesprüche vermittelt wird.

 

Auch da erinnere ich mich gut. Ein großer Wert wurde ja bekanntlich in der NS-Zeit auf Musik gelegt. Die Texte und Melodien gingen ins Ohr. Ich gestehe, dass ich heute noch mehrere dieser Lieder singen könnte. Aber nicht, weil ich sie von meinen Eltern oder auch in der Schule gelernt hätte. In der Zeit der Fliegeralarme war fast in jeder Wohnung der Volksempfänger deswegen zu hören, weil aus ihm die neuesten Meldungen über irgendwelche drohenden Bombenangriffe zu hören waren und man über den „Kuckucksruf“ erfuhr, dass es höchste Zeit war, eine Luftschutzbunker aufzusuchen. Nicht weil ich befürchtete, dass ein Musikkonzert von Helene Fischer mit dem Lied „Atemlos durch die Nacht“ einer nationalen Aufrüstung dienen würde, aber ich habe Angst, dass was ja teilweise schon geschieht, radikale Parolen musikalisch aufbereitet werden. Ich liebe Musik, Arien, Duette, Viergesänge, die Stubenmusik und auch Chöre, aber mir ist immer unwohl, wo im Gleichschritt gesungen, gegrölt und marschiert wird. Ich habe Angst vor Parolen für irgendwelche „-ismen“ wie Nationalsozialismus, Kommunismus, sogar Liberalismus. Sie enthalten zu viel von einem „Muss“. Ich mag keine allgemein verordneten „–sierungs-Maßnahmen“: Rationalisierung, Technisierung. Sie erinnern mich zu sehr an eine Mobilisierung aller. Dazu gehört auch die heute so kritiklos von fast allen Parteien angestrebte Digitalisierung. Manche setzen sie bereits als oberstes Ziel auf ihr Wahlprogramm: „Digitalisierung first“. Bei angeforderten Aufmärschen wären zwecks Einmarsch die Füße in erster Linie gefragt. Nun ist es der Finger. Im alten Rom entschied bei den Gladiatoren-Spielen der nach oben oder unten gerichtete Daumen des Volkes über Tod und Leben. Jetzt kommt der Zeigefinger und der Druck auf den richtigen Knopf eine große Macht zu. Ich kenne keine Massenbewegung, die bei ihren Parolen jemals das Herz als Symbol der Menschlichkeit in den Mittelpunkt gestellt hat. Schade. Davor hätte ich wohl keine Angst.

 

Im Gegensatz zu vielen bin ich kein Anhänger einer totalen Globalisierung wohl wieder vielleicht wegen dieser zwanghaften -sierung. In meiner nicht an Spielsachen reichen Welt, war mein Lieblingsspielzeug irgendwelche bunte Bausteine, aus denen ich Häuser und sonst was baute. Ganz besonders liebte ich Buntstifte und freute mich wenn ich von irgendjemand wieder ein roten, grünen, blauen geschenkt bekam. Meine Lieblingsfarbe war immer bunt. Ich habe Angst vor einer uniformierten Farbe. Das war einmal braun. Ich habe aber auch Angst, wenn Politiker im Zeichen des Fortschritts fordern, dass Handy und I-pad bis in einen entferntesten Winkel unserer Erde transportiert werden müssen, es nur noch einen Einheitston, eine Monotonie gibt, in die alle einstimmen müssen. Ich bin traurig über das Arten- und Rassensterben. Es gehört zu den größten Wundern der Schöpfung, dass wir auf einem Planeten der Vielfalt und Buntheit leben dürfen. Schrecklich wäre für mich eine Welt, in der das Wort „anders“ nicht existiert.

 

Ich habe Angst vor Uniformen und Unifarben und würde mich nicht einmal freuen, wenn im Himmel einmal nur ein leuchtendes Weiß zu sehen wäre. Zu den Wundern der Schöpfung gehört, dass es nicht nur die vielen Farben gibt, sondern dass wir auch Augen bekommen haben, Buntes zu sehen und uns daran zu freuen. Wen wunderts, dass es heute immer weniger Originale gibt? Die Ideologie: „Du bist nichts, dein Volk ist alles“, mit der man Millionen in den Tod jagte, zeigt die Verachtung der Würde der einzelnen Person in größter Deutlichkeit. Ich habe als junger Student noch erlebt, dass in der Münchner Uni der Spruch stand: „dulce et decorum est pro patria mori“. (Es ist „süß“ und „schmückend“ fürs Vaterland zu sterben). Da durchfuhr mich jedesmal ein Schrecken und ich bekam damals schon Angst, dass man offensichtlich nichts aus der Vergangenheit gelernt hat.

 

Ich hoffe und glaube nicht, dass wir irgendeinem „starken Mann“ hinterher laufen werden. Vielmehr fürchte ich, dass wir immer weniger wahrnehmen, wie wir bereits von anonymen Mächten manipuliert werden, vor allem unsere Kinder. Es wäre höchste Zeit, dass wir in unseren Schulen von Anfang an eine ständige konkrete Besinnung auf unsere schöne Verfassung vornehmen. Alle Lehrpläne verweisen zwar auf sie, meist aber bleibt es dabei, dass die Verfassung zur bloßen Präambel verkümmert. Die gerade im Anschluss an die Katastrophe des 2. Weltkrieges und der verheerenden nationalsozialistischen Ära als Neubesinnung entstandene personale Pädagogik mit ihren philosophischen Grundlagen durch Leute wie Romano Guardini, Max Müller, Fritz Stippel, Richard Schwarz, Bernhard Schleißheimer ist weitgehend in Vergessenheit geraten und ist von einem dümmlichen Gerede in der Psychologie vertretenen Behaviorismus vor allem in der Lehrerbildung verdrängt worden. Solange wir es nicht mehr schaffen, die Frage nach dem Sinn des Daseins zur Grundlage und zum Mittelpunkt pädagogischen Denkens zu machen, können wir die wohl wichtigste Aufgabe der Gesellschaft nicht mehr leisten: Kinder stark machen für die Herausforderungen unserer Zeit.

 

 

 

Helmut Zöpfl